Manuskriptwanderung 2015
Nordhausen / Limlingerode -
Auch in diesem Herbst wanderten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Thüringer Verbandes durchs Land (zehn Kilometer auf dem »Grünen Junipfad« von Sarah Kirsch in Limlingerode), lasen am Abend zuvor öffentlich in der großen neugebauten gläsernen Bibliothek von Nordhausen und diskutierten nach dem Fußmarsch nichtöffentlich ihre gegenwärtig entstehenden Manuskripte. So weit, so alljährlich nach 1990. Und wie bei den meisten dieser Manuskriptwanderungen regnete es auch 2015. Aber die Tradition hat sich mit den Jahren seit der Vereinigung von deutschem »Sozialismus« Ost und deutschem Kapitalismus (West) verändert. Liefen wir bei der ersten Wanderung noch gemeinsam mit bayrischen und hessischen Kollegen von der Thüringer Feste Heldburg über die ehemalige Grenze ins Bayrische, so bleiben wir nun schon seit Jahren unter uns im Heimischen. Und noch etwas: 1990 träumte ich (und wollte es glauben!) noch davon, im Aufbruch eines vereinten Deutschlands als Schriftsteller mit meinem Rat und meiner Schreibe von und in der Gesellschaft gebraucht zu werden. (Was in der DDR auch widerborstigen Künstlern von Kulturoberen abverlangt – aber natürlich nicht immer beherzigt wurde.) Ich träume den Traum vom Gebrauchtwerden für gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr. Denn die Politiker (gleich welcher Parteien) sind fast immer fremdbestimmt von Lobbyisten, Weltwirtschaftszwängen und ideologischer Parteidisziplin. Sie möchten nicht gestört werden von unsereinem. Weder mit Widerspruch noch mit Ratschlägen für gesellschaftliche Veränderungen. Ich habe im 25. Jahr der Einheit keinen Traum und keine machbaren Visionen mehr. Aber auch im nächsten Herbst werden wir in Thüringen wieder wandern, lesen und unsere Texte diskutieren.
/ Landolf Scherzer / Ossietzky, 19, 2015 /