Foto privat.
Olaf Trunschke
Geboren in Radebeul bei Dresden, war Chemiker, Lektor und Werbetexter. Im Wende-Herbst 1989 gründete er einen der ersten ostdeutschen Privatverlage, wo er ab 1993 Software für Electronic Publishing entwickelte. Heute arbeitet er als Designer digitaler Medien, Dozent und Schriftsteller in Berlin und Erfurt.
Werke
Das Menschen-Museum, 1989
Der Brandenburger Tor, 2007
Die Geometrie der Träume, 2008
Schöne Bestien, 2012
Die Kinetik der Lügen, 2016
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Vorspann
Claire überlebte uns alle. Noch ein halbes Jahrhundert spä- ter erzählte sie jedem, Shelley sei ihre große Liebe gewesen. Und es waren viele, die sie in Florenz besuchten: Gelehrte, Literaten, Studenten. Sammler, die hofften, ihr einen Brief oder gar ein paar Notizen aus dem Tagebuch abluchsen zu können. Biografen auf der Jagd nach einer noch unbekann- ten Kleinigkeit …
Pauline servierte den Tee. Claire war in der Stadt, und Pauline, die nun schon ein paar Jahre bei ihrer Tante wohnte, bewirtete den Gast. Dieser Besucher stellte zum Glück keine Fragen, er plauderte: Gatteschi. Ferdinando Luigi Gatteschi hatte sich der Gast vorgestellt, ein alter Freund von Madame Claire. – Vor Jahren in Paris. Damals. Auch ihre Schwester habe er gekannt. Gut gekannt. Damals.
Überm Bauch des Endfünfzigers warf die Weste ein paar Falten. Aber die weißen Haare, der weiße Anzug, die brau- nen Augen … – Pauline rührte ihren Tee. Ihre Tante, die stadtbekannte Krähe, hatte wohl früher Geschmack …
Er sei, erwähnte Gatteschi, auf der Durchreise, ein paar Stunden bloß in Florenz. Nur durch Zufall habe er erfah- ren, dass Madame Claire hier lebe, in dieser zauberhaften Stadt. Nun wolle er etwas dalassen, zur Erinnerung: Ein schönes Stück. Gold. Mit Sprungdeckel … – Eine Schweizer Arbeit.
Damals, bei einem Besuch in London bei Madame Claires Schwester, der Witwe Shelley, habe ihm ein Landsmann, der im Exil Wurzeln geschlagen, mit über vierzig geheiratet und noch vier Kinder gezeugt habe, die Uhr überlassen …
Die unruhigen Zeiten damals, man habe die kommen- den Aufstände schon gefühlt, und turbulente Umstände hät- ten die Rückgabe verhindert. Damals. Unter den Lebenden sei Madame Claire nun wohl diejenige, welche am ehesten ein Anrecht habe auf das Schweizer Stück. Er habe da auch noch ein paar Fragen. Jetzt müsse er einige Geschäfte erle- digen, plauderte Gatteschi. Und am Abend gehe sein Zug. Der Tee: vorzüglich. Gatteschi steckte die Uhr wieder in die Tasche. Nachher wolle er noch einmal klingeln. Und herzli- che Grüße an die Tante!
Kaum war Gatteschi durch die Tür, polterte Claire ins Zimmer. Auf dem Markt hatte sie Grünzeug erstanden und frischen Klatsch, der warm aufgetischt wurde. Als Pauline den Namen des Gastes erwähnte, stieß Claire einen Schrei aus: Gatteschi – der Lump! Kürzlich hatte sie alte Briefe ihrer Schwester sortiert: Welche Angst zuletzt zwischen den Zeilen! Erst: Ferdinando, der Engel. Ganze 200 Pfund hatte sie sich bei Claire geborgt für den begabten Schönling. –
Und dann der Fall. Seinen Namen hatte Mary in ihrem Gedächtnis regelrecht ausgebrannt. Diese Angst, Gatteschi könne sie vernichten, wegen ein paar kitschiger Briefe. Noch als die Geschichte längst überstanden war …
Sogar Claires Post, in der sein Name erwähnt war, hatte Mary dem Kamin verfüttert. Claire war diese Hysterie ein Rätsel geblieben: Sie hätte den Schurken zur Rede gestellt. Aber Mary wollte keinen Kontakt. Hatte Angst vor Gatteschi, faselte von Rache und Mord … – Gott gebe ihrer Seele Ruhe und Frieden!
Claire verbot ihrer Nichte, das Tor zu öffnen, sollte er nochmals auftauchen, dieser Lump! – Aber die Glocke blieb still. Claire hatte die letzte Chance, die Wahrheit zu erfah- ren, um ein paar Minuten verpasst. Am Abend ging sie zum Kruzifix und sprach ein Dankgebet.
Zuletzt war Claire katholisch geworden. Sie las fromme Bü- cher, neben dem Kruzifix hing ein Bild von Shelley. Und freie Liebe, meinte sie, mache Menschen zu Monstern. – Dabei hatte Claire damals, um in Byrons Bett zu landen, keinen Trick ausgelassen …
I. Die Zeitmaschine
Vier flache Monitore pro Platz, davor Maus und Keyboard. Cola-Flasche. Büchse für Brote oder Fast-Food-Box. Hier, im Control Centre, wachen Physiker über Atem und Puls des Monsters. Nebenan. Hundert Meter in der Tiefe. Bea- mer werfen Bilder, die der Computer aus den Messwerten errechnet, an die Stirnwand: eine Spalte roter Zahlen und Zeichen. – Das Monster schläft …
Unter der bunt bemalten Halle, in einer Kaverne, so groß wie eine Kathedrale, steht der Detektor mit dem antiken Namen: ATLAS. – Die Hoffnung der Physiker, er möge ein paar Teilchen finden, welche ihre Theorien zur Tatsache machten, lastet auf seinen Schultern.
Sonne, Mond und Sterne – alles, was wir am Himmel sehen, hatte ich gelesen, sind nur vier Prozent des Kosmos. Der Rest? Eine dunkle Angelegenheit: Dunkle Materie. Dunkle Energie. Namen für unsere Ratlosigkeit. – Gäbe es da nicht etwas, was die Welt zusammenhält, flöge die Galaxis auseinander.
Unser Weltbild, sagte Maria, die neben mir lief, ist wie ein Puzzle: Einige Teile, die gut passen würden, gibt es bislang nur in unserer Fantasie. Andere bunte Puzzle-Teile fügen sich einfach nicht ein … – Physiker, musst du wissen, sind faule Leute: Sie suchen einfache Lösungen, am besten: eine Formel für alles.
Keiner weiß, was die Maschine finden wird: einen Triumph der Theorie? – Oder taugen alle Formeln und Gleichungen bald nur noch als Gleichnis eines großen Irrtums … Hier am CERN werden Weltbilder entworfen und Weltbilder zerstört.
Am hölzernen Globus vorbei gingen wir über die Straße. Lärche, Fichte, Kiefer, Ahorn – alles aus hiesigen Wäldern, erzählte Maria wie aus dem Reiseführer. Die Bretter stam- men von der Expo 2000, dort hatte die Schweiz einen Pa- villon ganz aus Holz. Die runde Form erhielt das Haus ein paar Jahre später. Seit wir unser 50-Jähriges feierten, steht der Globus hier in Meyrin. – Besucher, sagte Maria, als sie meinen verwunderten Blick bemerkte, habe ich auch schon herumgeführt. Im Sommer kommen viele Touristen. Und das Kugelhaus wirkt wie ein Magnet. Ein Magnet aus Holz, hier, wo es sonst nur Monster aus Metall gibt.
Alte Baracken, die einst zu einer Kaserne gehört hatten, wechselten mit Neubauten. Vieles wirkte verlottert. An manchen der Hallen bröckelten die Fassaden. – Aller Mammon geht in die Maschine, erklärte mir Maria. Manche Länder schicken Moneten, andere Material, die Russen das Messing alter Granathülsen. Für die maroden Gebäude bleibt kaum Geld.
Tatsächlich wurde, als wir ankamen, gerade einer der be- gehrten Tische frei. Hier hatte ich Maria den Kaffee übers Shirt gekippt. Die Platten auf der Terrasse waren so uneben, dass sämtliche Tische wackelten. Die weinroten Plastikstühle und die Tische stammten noch aus der Frühzeit des CERN, lange bevor hier in der Cafeteria der Name »World Wide Web« erfunden wurde, wie Maria mir später erzählte. Manchmal schien auch der Kaffee von damals. – Danke! Und jetzt bitte signieren, hatte Maria gesagt, als der braune Fleck sich auf ihrem Shirt ausbreitete …
Am nächsten Tag saß Maria wieder an derselben Stelle. Ihr gelbes Shirt zeigte keine Spur mehr von meinem Unge- schick. Lächelnd lud sie mich ein an ihren Tisch.
Ein paar Bilder der Maschine, tief in der Erde, hatte Maria mir schon im Visitor Centre gezeigt: Zwei armdicke Stahlrohre, gebogen zu einem gewaltigen Doppelring, in einem Tunnel zwischen den Bergen des Jura und dem Aéroport.
In den Ringen, erklärte sie, kreisen die Teilchen wie Züge auf benachbarten Gleisen: linksherum, rechtsherum – rasen aneinander vorbei: alle sieben Meter ein Waggon voller Pro- tonen, ein paar Zentimeter lang, einen Millimeter breit.
Maria rührte Schaumkreise in den Kaffee. Ihre grünen Augen blitzten … Stell dir eine Ringbahn vor wie in Moskau und London. Oder euren S-Bahn-Ring in Berlin: zweiglei- sig, 27 Kilometer lang. – Eine Trasse, die nur gebaut wurde, damit auf ihr Züge zusammenstoßen …
Von Meyrin geht die Reise über die Grenze nach Saint- Genis-Pouilly, von Saint-Genis-Pouilly weiter nach Cessy am Fuße des Jura, von Cessy nach Ferney-Voltaire, von dort über die Grenze zurück nach Meyrin. – Eine rasende Fahrt: über 11 000 Runden pro Sekunde. In jedem der beiden Ringe kreist die Energie eines Expresszuges.
An vier Orten, drei drüben in Frankreich, einer bei uns in Meyrin, kreuzen sich die Gleise: Hier rasen die Wagen frontal ineinander …
Atlas, der Koloss: 40 Meter lang, 25 Meter im Durchmes- ser. Schwer wie der Eiffelturm in Paris. Hier, im Zentrum des Detektors, prallen die Protonen aufeinander: enorme Energie auf engstem Raum, wie vor 13,8 Milliarden Jah- ren, eine billionstel Sekunde nach dem Big Bang … – Dabei entstehen neue, unbekannte Teilchen. Für einen winzigen Moment … – Teilchen, die vielleicht das Geheimnis des An- fangs kennen.
Um das Kleinste zu untersuchen, braucht es so riesige Ma- schinen. Wir erforschen das Allerkleinste, um das große Ganze zu verstehen. Es gibt keine Bilder, die wirklich be- schreiben, was hier geschieht, sagte Maria und lehnte sich zurück. Der Kaffee war kalt, der Tisch wackelte wieder. Die Maschine entzieht sich jedem Vergleich. Nun ja: wenn sie in Betrieb ist …
Wir haben Lösungen gefunden, die Magnete, welche die Teilchen in der Bahn halten, zu kühlen. Wir haben Lösun- gen gefunden, das Schrumpfen der Metalle bei dieser Kälte knapp überm Nullpunkt auszugleichen. Nur das Wackeln der Tische hier auf der Terrasse der Cafeteria blieb ein offenes Problem. Kürzlich fand ein Team endlich die Ant- wort: Alle Tische müssten um ein paar Grad gedreht wer- den! – Marias Lachen war laut und hell: Eine, wie ich sehen könne, unlösbare Aufgabe.
Der Ostwind griff ihr ins Haar. Unter uns die Rebstöcke – hingekämmt an den Hang, fast bis zum See: dort, fern, die Wasserfahne, weiter drüben, am Fuße des Jura, tief ins Ge- birge gefräst, wartete die Maschine. Unsichtbar. Wie eine gi- gantische Uhr, hundert Meter unter Häusern und Feldern. Eine Uhr, die nicht bloß Stunde und Minute anzeigt, eine hörige Dienerin der Zeit, sondern selbst Zeit erzeugt: Zu- rück bis zum Urknall.
Ich legte Maria meine Jacke um die Schultern. – Lächelnd wehrte sie ab: Keine toten Tiere. Bitte. Egal ob Gürtel, Schuhe oder Jacke – Maria duldete an ihrem Körper kein Leder. Es war Sonntag. Aus der Stadt wehte das Läuten von Saint-Pierre herauf; unter uns, in der Ferne, ein paar Winzer in ihren Feldern. Maria stand vor mir, ich legte meine Arme um sie, meine Hände auf ihre Brüste – prall, reif, hart. Zwei volle Trauben. Sie neigte den Kopf in den Nacken, ich fühlte ihre Lippen, ich fühlte ihre Hände, zielsicher …
Prallen zwei Teilchen aufeinander, wird ihre Energie zu Masse: Neue, schwere Teilchen entstehen und zerfallen – nur an den Spuren ihres Vergehens erkennen die Geräte:
Weg und Ladung. Geschwindigkeit, Masse und Energie. Für einen Moment springt die Zeit zurück: ein Zustand, wie kurz nach dem Big Bang. Heiß. Fremde Materie – längst zerstrahlt. Vergangen.
Ihr Kleid war rasch geordnet. Auf dem Rückweg zum Wagen winkte ein Winzer. Während der Fahrt hatte ich mich gewundert über das dünne, schwarze Kleid. Immer trug sie Jeans, fast immer Shirts. Plötzlich begriff ich … Jen- seits der Quanten gibt es keinen Zufall.
Der gelbe Streetka hüpfte über den Feldweg. Gelb und Schwarz – das waren Marias Farben. Tag und Nacht. Warm und kalt. Außerdem: Gelb und Schwarz haben angeblich von allen Farben die beste Fernwirkung: Eine wandelnde Warnung! Absperrung und Grenze. Die Farben der giftigen Tiere. Ich bin ein Salamander: Siehe, ich gehe durch Flam- men … – Genf macht verrückt!
Hinter der Biegung, mitten auf dem Weg, holperte uns ein grünes Gefährt entgegen: eine riesige Kutsche, wie sie wohl früher benutzt wurden für lange Reisen. Erst im letz- ten Moment lenkte der Kutscher die Pferde an den Weg- rain.
Zurück auf der Straße raste Maria wie von einem Monster verfolgt. Das kleine Auto zitterte vor Angst. Irgendwie hatte es mein Mitgefühl. – Eigentlich hasse ich Maschinen, die mich in Besitz nehmen. In die ich einsteigen muss: eine ei- serne Haut. Ein Panzer. Eine Maske aus Lack und Glas und Blech. Maschinen sind mein Schicksal.
Maschinen wie dieser ratternde Tomograf. – Stolz hatte mir der Doktor mein Gehirn gezeigt. So, wie es die Ma- schine sah: ein Stapel dünner Scheiben. Stolz … und ent- täuscht, dass er nichts Besonderes entdecken konnte in meinem Kopf. – Er hatte meine TV-Serie über die Gigan- ten aus Stahl gesehen und nun glaubte der Doktor wohl, es müsse auch Ungeheures zu finden sein unter meiner Schä- deldecke.
In der Stadt dann: Stau. Stop-and-go. Von Ampel zu Ampel. Hier siehst du, sagte Maria, was verquer läuft, wenn dumme Technik versucht, den Verkehr zu steuern. Sie drehte am Radio. Ihre Linke klopfte auf dem Lenkrad den Takt. Bes- ser wäre es doch, der Verkehr regelte die Ampeln!
Außerhalb von Genf wurde die Gegend fast ländlich. Obst. Getreide. Vor allem Wein. In einer Staubwolke brachte Maria den Streetka zum Stehen. Das Tor stand weit offen. An den Bogen aus Feldsteinen gelehnt begrüßte uns Georges mit sonnigem Grinsen.
Maria hielt die Wette für eine Schnapsidee. Dabei spielte Schnaps überhaupt keine Rolle – allenfalls ein paar Gläser zu viel Gamaret: Tiefrot. Pflaumen, Brombeeren, Pfeffer.
Georges legte Wert auf reife, ganze Beeren. Im Keller hatte er sein Labor eingerichtet, im Nachbargewölbe liefen die Versuche: die Dauer der Gärung, der Anteil der Schalen, Kerne und Stiele in der Maische – wichtig für das Tannin im Wein. – Nichts, was sich ändern ließ an Zeiten und Mengen, blieb unversucht. So viel war vom Wissenschaftler ge- blieben im Winzer. Ein Kernphysiker, der die Schalen und Kerne der Weinbeeren erforschte.
An den Wänden hingen alte Karten, Ausschnitte aus vergilbten Zeitungen. – Keine Erinnerung an seine Zeit am CERN. Die harten Bänke, die Stühle, die Holztische – das hier war zugleich Gastraum, Galerie und Georges Büro.
Beide hatten in Paris studiert: Georges vor allem Physik, Maria hatte Physik und zusätzlich Informatik belegt. Ihr Französisch, behauptete Marcel, habe noch immer einen polnischen Akzent. In Genf waren Georges und Maria ei- nander wieder begegnet. Hatten ein paar Monate sogar im selben Team gearbeitet. Bis Georges ausstieg …
So tickt Wissenschaft: Theorie. Versuch. Heureka! – Georges hatte sich den guten Ruf verdorben, als er einmal forderte, das Ergebnis zu bedenken, falls die Theorie falsch sei. Dann widerlege das Experiment nicht bloß die Hypothese, da könne die Maschine sonst welche Monster wecken: Formen der Materie, an die im Traum noch kein Forscher gedacht habe. Bei Energien wie kurz nach dem Urknall … – Es war sein letzter Kongress.
Frankenstein-Effekt, nannte das Georges: Etwas Gro- ßes schaffen wollen, aber ein Ungeheuer wecken. – In der Maschine, befürchteten damals manche, könnten kleine Schwarze Löcher, die bei der Kollision entstehen, außer Kontrolle geraten und alles verschlingen: das CERN, Genf, den ganzen Planeten …
Georges selbst glaubte übrigens nicht an den Urknall: Das sei kein Thema für Physiker, sondern für Pfarrer. – Die Unfähigkeit, das Denken vom menschlichen Erleben zu lösen: Geburt und Tod. Anfang und Ende. Eben: Glaube.
Marcel saß über einer Mappe voller Skizzen: »iGhost – Ge- sichter des Grauens«. – Jedes Jahr, erzählte er, mache ich mit den Neuen diese Übung: Sie sollen ihren Ängsten eine Gestalt geben. Aber sie kommen von den alten Bildern nicht los: Frankenstein, Dracula, Freddy Krueger … – Übrigens: Frankenstein ist Genfer, wusstet ihr das?
Georges, der gerade eine neue Karaffe brachte, verdrehte die Augen. Marcel hatte gerade sein Steckenpferd bestiegen … Der Gamaret entfaltete ein betörendes Bukett.
Es war im Sommer 1816, erzählte Marcel. Lord Byron und Percy Shelley, die beiden Dichter, trafen einander hier am Genfer See. Byron auf der Flucht vor dem Klatsch in London und seinen Schulden. Shelley auf einer Ro- manze mit zwei jungen Damen: Mary Godwin und Claire Clairmont. Claire ihrerseits auf der Jagd nach Byron.
Marcel erhob sich aus seiner Ecke, die er spöttisch »Atelier« nannte, und trat ans Fenster. Eigentlich gab es reichlich Platz und sogar noch ein paar leere Räume. Aber Marcel liebte Nischen und Erker. Und am liebsten saß er in die- ser Ecke, seinem Atelier. In fünf Jahren war es Georges und ihm gelungen, das verkrautete Anwesen wieder in ein bewohnbares Gebäude und einen Rebhang zu verwandeln.
Heute stünden hier Häuser mit hohen Mauern und He- cken, hätten wir das Gut nicht gekauft, sagte Georges.
Marcel entwarf Flaschen, Etiketten, Plakate und Karten. Nahm die Weine mit nach London und Paris – wo immer seine Grafiken ausgestellt wurden, dort standen in der Ga- lerie auch die Flaschen mit seinen Etiketten: Jede Flasche ein Original, signiert vom Winzer und vom Gestalter. Jedes Jahr eine neue Edition.
Dort, Marcel zeigte schräg über den See, in der »Villa Dio- dati« … – Der Sommer war kalt und verregnet. Noch im Juli musste der Kamin geheizt werden. An den wenigen regen- freien Tagen segelten Byron und Shelley auf dem See. Doktor Polidori, der Leibarzt des Lords, vergnügte sich bei Freunden in Genf. Nachts, im Schein glühender Scheite, erzählte man einander Ghost-Storys. – Gut gegen die Langeweile, wenn überm See die Gewitter tobten. Da hatte Byron eine Idee …
Alle schreiben ihre Gruselgeschichten. Die kleine God- win aber findet lange keinen Faden. Doktor Polidori, dem zunächst auch nichts einfällt, greift Byrons Idee auf und schreibt über einen Vampir. Schließlich erzählt Mary der Kaminrunde die Geschichte vom verrückten Gelehrten und seiner armseligen Kreatur. Byron ist begeistert! – Zwei Jahre später erscheint das Buch auf dem Markt: anonym, wie damals üblich, mit einem Vorwort von Shelley.
Woher hatte die blutjunge Engländerin, gerade einmal achtzehn, den Einfall für ihren Roman? Und wie kam sie auf diesen Namen? »Frankenstein« – Ausgerechnet ein deut- scher Name. Dabei fand Mary die Deutschen abscheulich … Ihr Tagebuch ist verschollen. Natürlich. – Marcel schüttelte den Kopf: Alles bloß Marketing!
Später, viele Jahre später, erfand Mary dann für ein neues Vorwort ihres Buches die Legende: In einem Wach- traum, weit nach Mitternacht, habe sie den Meister und sein Monster erblickt, das – ein Werk mächtiger Maschinen – ge- rade zum Leben erwachte …
Seine Familie, erklärte Georges, die seit dem Urgroßvater in Frankreich lebt, hat eigentlich italienische Wurzeln. Und Marcels Urgroßvater, behauptet die Familienlegende, soll Mary Shelley, längst eine berühmte Schriftstellerin, als junger Mann persönlich gekannt haben. Wohl deshalb habe Marcel sich in den Kopf gesetzt, zu beweisen, dass diese Traum-Story ein Fake ist …
Frankenstein. – Das war doch der Schauspieler mit den Schrauben im Gesicht. Obwohl das Buch irgendwo in meinen Schränken in Berlin als Paperback stand, hatte ich das nie für einen ernst zu nehmenden Roman gehalten. Und ein Girlie, wie Marcel erzählte, durchgebrannt mit einem verheirateten Poeten, soll also den Schmarren geschrieben haben?
Mein Bauch sagte: Die Story stinkt. Und auf meinen Bauch war Verlass. Stimmte in einem meiner Filme die Ein- stellung nicht oder gab es einen falschen Schnitt: das flaue Gefühl unterm Magen verschwand erst, wenn der Fehler behoben war. – Ich wette, entfuhr es mir, zumindest Briefe oder Notizen sollten doch zu finden sein!
Quatsch, konterte Maria. Fast hätte sie ihr Glas umge- stoßen. Byron und Shelley sind bei den Briten so ausgedro- schen wie bei euch Goethe und Schiller. Da gibt es über jeden Waschzettel eine Doktorarbeit. Marcel strahlte mich an: Top, die Wette gilt! – Er hatte jetzt einen Komplizen …
Dann lasst uns das Rätsel knacken! Georges schenkte sich ein neues Glas ein. Stimmt die Wachtraum-Legende? Oder hat Mary Godwin irgendwo abgekupfert? Jeder von uns erfindet eine Geschichte, wie der Roman vom ehrgeizi- gen Doktor und seiner hässlichen Kreatur in Wahrheit entstanden ist. – Georges breiter Stoppelbart strahlte wie die griechische Sonne: Ich setze drei Flaschen Gamaret auf die beste Story! – Natürlich wusste Georges, dass die Flaschen sein Weingut nie verlassen würden …
Marcel, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigte, glaubte, die Brüder Grimm hätten die Finger – oder besser ihre Federkiele – im Spiel: Es gäbe da die Sage von einem Hexenmeister auf Burg Frankenstein und seiner Kreatur. Und die klamme Kasse der beiden Gelehrten in Kassel konnte jeden Heller vertragen. Denn die berühmten Mär- chen, meinte Marcel, waren anfangs ein Flop …
Die Zeitmaschine steht. Vielleicht ein gebrochenes Kabel. Vielleicht wieder eine vergessene Bierflasche irgendwo im Tunnel, wie damals. – Eine winzige Ursache im Vergleich zu den Maßen der Maschine. Die Schöpfung wird verschoben …
Es kann dauern. Monate. Vielleicht ein halbes Jahr. Ei- nige Bilder hatte ich schon im Kasten. Aber eine tote Maschine ist kein tolles Thema. Kein Film, kein Geld. Kamera, Ton und Licht – das ganze Team, alle waren längst wieder in Berlin. Bloß ich hatte meine Bleibe für drei Monate ver- mietet. Meine Wohnung im alten Wasserturm … Was tun? – Gammeln in Genf.
Dafür hatte Maria mir einen Blick ins Uhrwerk der Zeit- maschine versprochen. Ist der Beschleuniger in Betrieb, wäre das Betreten des Tunnels sofort tödlich …
Im Park, auf dem Weg zu Marias Wohnung, beobachteten wir die Spieler, die kindergroße Schachfiguren von Feld zu Feld schoben. Eine unförmige Gestalt, gehüllt in Lumpen, stolperte mitten durchs Schachfeld, warf Turm, Läufer und Bauern durcheinander. Vor den Flüchen der Spieler floh sie zum Springbrunnen, füllte ihre Pranken mit Wasser, stieß einen Schrei aus und rannte davon. – Eine Szene, wie im Film …
Übrigens: Marcel hat uns zu einem Ausflug eingeladen, sagte Maria. Sie nahm meine Hand. In Cologny, früher ein Winzerdorf vor der Stadt, heute Wohnsitz des Geldes, gibt es ein wundervolles Museum, eine richtige Schatzkammer. Martin Bodmer, der Stifter, hat Zeit seines Lebens Unsum- men ausgegeben für Bücher und Bilder. – Und dort, gar nicht weit von der Villa, in der einst Byron wohnte, behaup- tet Marcel, läge der Beweis für seine Grimm-Geschichte.
Langsam wurde es Zeit für meine eigene Story. Noch fehlte mir jede Idee. So, Zug um Zug, wie diese Schachspieler, müsste ich vorgehen. Aber wo anfangen? – Ich hatte mir ein neues Taschenbuch besorgt, diesmal die Urfassung: Auf dem Cover der Schauspieler mit den Klammern im Kopf und den traurigen Augen. – So kannte jeder die Kreatur. Dabei hatte Boris Karloff den Job nur bekommen, weil Bela Lugosi, der gerade als Vampir auf der Filmbühne gefeiert wurde, keine Lust hatte auf eine stumme Rolle.
Der Anfang des Buches war ziemlich langweilig: Zehn Seiten Briefe des ehrgeizigen Seefahrers Robert Walton, der unbedingt zum Nordpol will. Natürlich wird sein Schiff von Eis eingeschlossen, und endlich, als nichts mehr geht, ge- winnt die Geschichte an Fahrt …
Maria wohnte in Plainpalais, dem Viertel mit alten Häusern, kleinen Läden und vielen Kneipen. Manche Fassade hier hätte etwas Kosmetik vertragen. Mittwochs und samstags lockte der Trödelmarkt zum Stöbern zwischen Kram und Krempel. In einer Schenke, ein paar Schritte nur von Marias kleiner Wohnung, bestellten wir Brot, Käse und Rotwein.
Früher, erzählte Maria, war Plainpalais eine Wiese vor den Toren und die betuchten Genfer wandelten zwischen den Bäumen. In einer Regennacht, als die Blitze sich überm See kreuzten, begegnete Victor Frankenstein hier seinem Geschöpf …
Hier also … – in Genf wurde der Vater des Monsters ge- boren, Sohn einer vornehmen Familie. Bis hierher folgte später die Kreatur ihrem Schöpfer.
In Ingolstadt hatte Frankenstein das Leben und den Tod studiert, den Würmern bei ihrer Arbeit zugesehen. – Bis er das Geheimnis des Lebens kannte. Und dann, nach Mona- ten pausenloser Arbeit, als er sein Geschöpf erblickte: die langen schwarzen Haare, die gelbliche Haut, die wässrigen Augen, packte ihn das Grauen. –
Er hatte ein Wesen erschaffen mit Gedanken und Gefüh- len. Eine Kreatur ohne Namen, auch der Sprache anfangs nicht mächtig – überwältigt vom Licht der Sonne, vom Ge- sang der Vögel. Und einsam …
Maria schob mir den Teller mit dem Käse zu. Franken- stein, platzte es aus mir heraus, war ein Feigling. Einfach abzuhauen … – Das junge Monster muss sich gefühlt haben wie ich damals in der Schule.
Du in der Schule? Maria nippte an ihrem Glas.
Na ja: Ausgeklammert. Fremd. Anders eben … Ich war klein, dick und schüchtern. Ich war das Eigentor. Der Gips- fuß beim Staffellauf. Der erste Treffer im Völkerball. – Ich war die Niete, die übrig blieb …
Meine Mutter hatte mich vollgestopft mit Kuchen und Schokolade. Ich war ihr einziges Kind. Mein Vater hatte sich abgesetzt in den Westen. – Das Geld gewählt, als die Mauer sich schloss in Berlin.
Du klein und dick, sagte Maria zweifelnd, mit Spott in der Stimme: und schüchtern? – Das muss in einem anderen Leben gewesen sein!
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Eigentlich wollte ich Maria noch aus dem Paperback vorlesen. Die Stelle, wo das Monster im Laborbuch liest, alles über seine Entstehung erfährt … Aber es war schon zu dunkel. – Sie sah mich an mit diesem Lächeln, das mir immer verriet, worauf Maria gerade Lust hatte.
Vom Dom klangen die Glocken herüber: Wenn es zehn schlägt von Saint-Pierre, sagte ich, schließen die Tore. Auch nicht für fünfzig Franken öffnen sie sich wieder. Kei- nen Spalt. Unbestechlich die Wachen. Bleibt nur, bis zum Morgen ein billiges Quartier zu nehmen nahe der Mauer. Nachts ist die Stadt eine Festung.
Ein Glück: Ich kenne hier ein gutes, kleines Hotel, gleich um die Ecke, antwortete Maria, hakte sich unter und zog mich zu ihrer Wohnung. Vorsicht, ulkte ich: Vielleicht bin ich ein Monster?
Genf macht verrückt. Natürlich lese ich Bücher und Artikel, sammle Fotos, sichte Filme, wenn ich einen Dreh vorbereite. Jedes Fundstück bekommt seine Nummer, eine Notiz in der Datenbank. – Ohne diese Ordnung hätte ich keine Chance. Ich vergesse alles … Ein Jahr lang hatte ich den CERN-Film vorbereitet. Aber diese Rückblende passte wieder einmal nirgends: Die Tore sind geschlossen ab zehn …
Maria lachte. – Vielleicht gibt es auch mich nur in dei- nen Träumen? Sie ergriff meine Hand. Komm. Fass mich an. Vielleicht bin ich ein Geschöpf deiner Gedanken … – Woher willst du das wissen? Was fühlst du? Haut? – Warme, glatte Haut … Was, wenn die Gefühle nicht von den Spitzen dei- ner Finger kommen, sondern längst schon in deinem Kopf gespeichert waren und jetzt werden sie bloß abgespielt? Ab- gespult wie ein alter Film … –